Woke
Wokeness ist kein Ziel, sondern ein Prozess. Kein Dogma, sondern eine Suche. Kein Monolog, sondern ein Gespräch – eines, das weitergehen muss.
I. Einleitung: Was meint „woke“ – und warum reden alle darüber?
Es gibt Wörter, die in den öffentlichen Diskurs fallen wie ein Tropfen Tinte in ein Glas Wasser – sie färben alles ein, und bald weiß niemand mehr, wo das Glas endet und die Farbe beginnt. Woke ist ein solches Wort. Einst Teil einer politischen Sprache, die aus den Tiefen der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung kam, ist es heute aufgeladen, umkämpft, missverstanden – je nachdem, wer es verwendet, klingt es wie ein Lob, eine Warnung oder ein Vorwurf.
Man hört es in Talkshows, in Leitartikeln, auf Demonstrationen und in Twitter-Fehden. Politikerinnen mahnen vor einer „woken Diktatur“, Kabarettisten spotten über „Genderwahn“, während Aktivistinnen auf der Straße rufen: Stay woke! In dieser Gemengelage hat das Wort seinen Ursprung fast vollständig verloren – und mit ihm das, was es einmal meinte: eine Haltung der Wachsamkeit gegenüber sozialer Ungerechtigkeit, ein Sensorium für das, was in Gesellschaften schiefläuft, oft jenseits der sichtbaren Oberfläche.
Doch vielleicht ist gerade jetzt der richtige Moment, den Begriff zurückzufordern – nicht, um ihn gegen Kritik zu immunisieren, sondern um ihn zu klären, zu schärfen, zu öffnen. Denn hinter dem Gerede über „Wokeness“ verbirgt sich eine der grundlegendsten Fragen der Moderne: Wie kann eine Gesellschaft lernen, mit ihren eigenen blinden Flecken umzugehen? Wie wird man aufmerksam auf Ungleichheiten, die sich tief in Sprache, Strukturen und Selbstbilder eingegraben haben? Und wie verändert sich dadurch der Blick auf sich selbst – auf das eigene Urteil, die eigene Position?
Dieser Essay will nicht zur Verteidigung eines Modeworts antreten, sondern zu seiner Rekonstruktion. Er begreift „Wokeness“ als Erzählung über Aufklärung, als Erweiterung eines Gedankens, der schon Kant umtrieb: der Gedanke, dass der Mensch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit treten kann – wenn er nur den Mut hat, sich seines Verstandes zu bedienen. Doch dieser Essay wird auch zeigen, dass der aufgeklärte Mensch von heute nicht allein mit Vernunft gegen Vorurteile kämpft, sondern mit der Fähigkeit zur Selbstkritik, zur Empathie und zur historischen Reflexion. Und dass diese Fähigkeiten nicht nur Strukturen in den Blick nehmen, sondern auch die Subjekte selbst – uns alle.
„Woke“ – das bedeutet heute mehr als wach zu sein. Es bedeutet, wach zu bleiben, auch wenn das Licht grell ist und die Erkenntnis unbequem. Um zu verstehen, was dieser Begriff einmal war, was er geworden ist – und was er vielleicht wieder werden kann –, braucht es einen Blick zurück, und dann einen nach vorn.
II. Wokeness – Von der Wachsamkeit zur Weltanschauung
Es beginnt mit einem Lied. Im Jahr 1938 singt der afroamerikanische Blues-Musiker Lead Belly über den Fall der „Scottsboro Boys“, neun junger Schwarzer, fälschlich der Vergewaltigung beschuldigt. Seine Warnung an das Publikum: “Stay woke”. Bleib wachsam – denn wer schwarz ist in Amerika, kann sich keine Illusionen leisten. Wachsamkeit, das war hier keine abstrakte Tugend, sondern ein Überlebensinstinkt.
Von Anfang an ist der Begriff „woke“ tief verwoben mit Erfahrungen von Ungerechtigkeit, rassistischer Gewalt und dem Bewusstsein, dass gesellschaftliche Strukturen keineswegs neutral sind. Die Aufforderung „wach“ zu sein bedeutete, die Augen offen zu halten – nicht nur für das Offensichtliche, sondern für das, was im Verborgenen wirkte: Vorurteile in der Polizei, in der Justiz, in der Sprache, in den Lehrplänen, in der Alltagskultur.
Über Jahrzehnte blieb „woke“ ein Code innerhalb afroamerikanischer Communities. Erst mit dem Aufkommen sozialer Medien, besonders im Kontext von #BlackLivesMatter, wurde er über die Grenzen dieser Communities hinausgetragen – in die Timeline, auf die Straße, in die akademische Debatte. Ein zentraler Wendepunkt war dabei der Tod von Trayvon Martin im Februar 2012.
Martin, ein 17-jähriger afroamerikanischer Schüler, wurde in einer Wohnsiedlung in Florida von George Zimmerman, einem Nachbarschaftswächter, erschossen. Martin war unbewaffnet. Sein „Verbrechen“ bestand offenbar darin, eine Kapuze zu tragen und schwarz zu sein. Als Zimmerman freigesprochen wurde, war die Empörung groß – doch diesmal blieb sie nicht stumm. Die Aktivistin Alicia Garza schrieb auf Facebook einen offenen Brief, der mit den Worten endete: „Black lives matter.“ Aus diesen drei Worten entstand eine globale Bewegung – und mit ihr wurde der alte Ausdruck „stay woke“ zum neuen Leitsatz.
Doch diesmal wurde der Begriff transversal – übertragbar auf eine Vielzahl gesellschaftlicher Felder: Polizeigewalt, institutioneller Rassismus, Genderdiskriminierung, Homophobie, Transfeindlichkeit, Kolonialerbe, soziale Ungleichheit, Umweltgerechtigkeit. „Wokeness“ wurde zur Weltanschauung, zur Haltung, zum moralisch-politischen Kompass einer neuen Generation von Aktivistinnen und Aktivisten.
Es war eine Haltung, die auf radikale Inklusion setzte – und auf radikale Kritik: an der Welt, wie sie ist, und an den Subjekten, die in ihr leben. In diesem Sinne war Wokeness nicht bloß Empörung, sondern ein aktiver Prozess des Bewusstwerdens: ein Sich-Wachhalten in einer Welt, die permanent betäubt – durch Gewohnheit, Bequemlichkeit, Medienrauschen.
Was damals entstand, war mehr als ein Protest. Es war ein Ringen um Sichtbarkeit. Ein Beharren auf Perspektiven, die im „universalistischen“ Denken der westlichen Moderne oft nur am Rand Platz fanden. Und es war ein Versuch, Verantwortung neu zu denken – nicht als individuelle Schuld, sondern als kollektive Bereitschaft, sich in den Zusammenhang von Geschichte, Macht und Gegenwart zu stellen.
Diese neue Wokeness war nicht frei von Widersprüchen. Sie war manchmal zu fordernd, zu schnell im Urteil, zu ungeduldig mit dem Zweifel. Doch sie war – und ist – eine Reaktion auf reale Verhältnisse. Auf eine Welt, in der sich Ungleichheit nicht von selbst abschafft. Und auf die Erkenntnis, dass man in dieser Welt nicht neutral bleiben kann.
III. Wokeness und das Projekt der Aufklärung
Wenn man den Begriff Wokeness vom medialen Lärm befreit, bleibt ein Kern, der erstaunlich vertraut klingt – besonders im Lichte jener Tradition, die als „Aufklärung“ in das kulturelle Gedächtnis Europas eingegangen ist. Auch dort, im Denken des 18. Jahrhunderts, stand das Erwachen im Zentrum: der Schritt aus der Unmündigkeit, der Ruf zur Selbstermächtigung. Sapere aude! – Wage es, weise zu sein, sagte Kant. Oder präziser: Wage es, deinen eigenen Verstand zu gebrauchen.
Doch wer diesen Satz heute zitiert, sollte nicht nur das Pathos hören, sondern auch die Einschränkungen, die ihn begleiteten. Die Aufklärung sprach oft im universellen Ton, doch sie war historisch, sozial und kulturell begrenzt: Männer sprachen für „die Menschheit“, Weiße definierten „Zivilisation“, Eigentum galt als Bedingung für Freiheit. Was sie nicht sehen konnte – oder nicht sehen wollte – wurde später das Arbeitsfeld der Kritikerinnen und Kritiker, die man heute mit Wokeness verbindet.
In diesem Sinne steht Wokeness nicht gegen die Aufklärung – sie ist vielmehr deren Fortsetzung mit anderen Mitteln. Sie übernimmt den Anspruch auf Emanzipation, auf kritisches Denken, auf eine gerechte Ordnung der Welt – und erweitert ihn um Perspektiven, die lange ausgeschlossen waren. Sie fragt: Wer darf sich auf Vernunft berufen? Wessen Erfahrungen gelten als relevant? Welche Stimmen wurden überhört?
Dabei wird auch deutlich: Aufklärung ist kein abgeschlossener Prozess. Sie ist kein Zustand, sondern eine Praxis – eine, die sich stets selbst hinterfragen muss. Genau hier setzt Wokeness an: als eine Form des wachen Denkens, das nicht nur andere kritisiert, sondern auch sich selbst.
Diese Form der Wachsamkeit ist unbequem. Sie rüttelt an alten Gewissheiten, stellt Hierarchien infrage, und sie stellt Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Doch gerade das macht sie zur Verbündeten einer aufgeklärten Haltung – und nicht zu ihrem Feind.
Denn was ist Aufklärung anderes als der Versuch, den blinden Flecken des Denkens entgegenzuwirken? Und was wäre der nächste Schritt, wenn nicht, sich jenen Flecken zuzuwenden, die bis heute übersehen, verdrängt oder verleugnet werden? Wokeness bedeutet in diesem Licht: die Erweiterung der Aufklärung um ihre Außenseiten. Eine zweite Aufklärung, wenn man so will – nicht statt der ersten, sondern als deren notwendige Fortsetzung.
Es wäre also ein Missverständnis, Wokeness als bloßes moralisches Modewort abzutun. Sie ist, richtig verstanden, Teil eines historischen Projekts, das nie abgeschlossen war: die mühsame, aber notwendige Arbeit an einer Gesellschaft, die ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden will.
IV. Selbstkritik, Machtanalyse, Subjektivität – Wokeness und kritische Theorie
Wenn Wokeness eines besonders gut beherrscht, dann ist es das Fragen. Nicht nur: Was läuft schief in der Gesellschaft?, sondern auch: Wer stellt diese Frage, aus welcher Position heraus, mit welchem Recht, und mit welchem blinden Fleck? In diesem Moment überschreitet Wokeness den Rahmen klassischer Gesellschaftskritik – und betritt das Terrain der kritischen Theorie und des poststrukturalistischen Denkens. Was sie dort findet, ist keine glatte Landkarte, sondern ein verschlungenes Gelände aus Diskursen, Machtverhältnissen und Identitäten – und eine Theoriegeschichte, die gelernt hat, sich selbst zu befragen.
Ein zentraler Bezugspunkt ist hier der französische Philosoph Michel Foucault, der den Begriff der Macht radikal umdeutete. Macht, so Foucault, ist nicht nur repressiv, sondern produktiv – sie durchdringt das Wissen, die Institutionen, die Körper, das Sprechen. Sie wirkt nicht nur von oben nach unten, sondern in feinen Kapillaren durch alle sozialen Beziehungen. Für das wache Subjekt von heute bedeutet das: Auch ich bin Teil dieses Gefüges. Auch ich spreche nie neutral. Auch meine Kritik ist geformt durch das, was ich für sagbar halte – und durch das, was ich nicht sehe.
Hier schließt sich die Verbindung zur Subjektkritik – etwa bei Judith Butler, die in Gender Trouble (1990) aufzeigte, wie sehr unsere Vorstellungen von Identität performativ erzeugt sind: Wir „tun“ Geschlecht, statt es einfach „zu sein“. Diese Erkenntnis hat eine revolutionäre Konsequenz: Wenn Identitäten gemacht sind, können sie auch verändert, unterlaufen, geöffnet werden. Wokeness nimmt diese Perspektive auf und radikalisiert sie: Es geht nicht mehr nur um gesellschaftliche Machtverhältnisse, sondern um die Frage, wie diese in uns selbst wirken – in unseren Haltungen, Worten, Blicken, Urteilen.
Noch einen Schritt weiter führt der Begriff der Intersektionalität, geprägt von Kimberlé Crenshaw. Sie zeigt, dass Unterdrückung nicht in einzelnen Achsen – etwa nur Rassismus oder nur Sexismus – verläuft, sondern in komplexen, überlappenden Mustern. Eine Schwarze Frau erfährt Diskriminierung anders als ein weißer Mann oder eine weiße Frau – und diese Unterschiede lassen sich nicht additiv beschreiben. Intersektionalität ist keine Identitätspolitik, sondern eine analytische Linse, die zeigt, wie soziale Hierarchien ineinandergreifen.
In dieser Perspektive ist Wokeness kein Dogma, sondern eine Praxis der Selbstverunsicherung. Sie zwingt dazu, sich in Beziehung zu setzen: zur eigenen Geschichte, zur Sprache, zum Gegenüber. Wer woke ist, beansprucht nicht moralische Überlegenheit – oder sollte es zumindest nicht tun –, sondern zeigt die Bereitschaft, sich von anderen Perspektiven irritieren zu lassen. Diese Form der Kritik richtet sich nicht nur nach außen, sondern durchbohrt das Ich.
In ihrer radikalsten Form fordert Wokeness, dass auch der Kritiker sich nicht außerhalb der Kritik stellt. Dass auch das aufgeklärte Subjekt – das sich so gerne als autonom, souverän und moralisch integer sieht – in Frage gestellt wird. Hier offenbart sich ihre Nähe zur Frankfurter Schule, zu Denker*innen wie Adorno und Horkheimer, die die dunkle Kehrseite der Aufklärung analysierten: Dass aus Vernunft Herrschaft werden kann, aus Fortschritt Gewalt, aus Universalismus Ausschluss.
Woke zu sein heißt dann: nicht ruhen. Nicht in sich, nicht in der Welt. Es heißt, wach zu bleiben für die Brüche, die Widersprüche, die Unauflösbarkeiten. Es heißt auch, den Zweifel nicht zu fürchten, sondern ihn produktiv zu machen.
V. Zwischen Aktivismus und Wissenschaft: Wer forscht, wer handelt – und warum?
Es ist eine bemerkenswerte Konstellation: Während Universitäten noch über Kanonfragen, Leselisten und Diskurstheorie streiten, skandieren auf den Straßen junge Aktivist*innen Begriffe wie „Intersektionalität“, „Dekolonisierung“ oder „Systemkritik“. Was früher in Spezialseminaren für Kulturwissenschaften diskutiert wurde, findet sich heute auf Transparenten, in Tweets, in Podcasts – und in Talkshows, oft verzerrt, aber dennoch wirksam.
Wokeness ist ein Phänomen, das sich zwischen Wissenschaft und Aktivismus bewegt – und gerade darin liegt seine Kraft wie auch seine Reibung. Denn wo Theorie zum Handlungsimpuls wird, entstehen neue Formen des Politischen: nicht nur durch Protest, sondern durch Sprache, durch Sichtbarmachung, durch institutionelle Intervention.
🧠 Die Universität als Denkraum – und als Machtstruktur
An vielen Orten beginnt die Reise mit der Lektüre: Frantz Fanon, Judith Butler, Edward Said, bell hooks, Sara Ahmed. Akademische Texte, die von Gewalt, Anerkennung, Kolonialität, Körpern und Stimmen sprechen – nicht in abstrakter Sprache, sondern in einer, die berührt, stört, aufrüttelt. In den Geistes- und Sozialwissenschaften, vor allem in den Feldern der Gender Studies, Critical Race Theory, Postcolonial Studies und Queer Theory, entsteht seit den 1980er- und 1990er-Jahren eine kritische Wissensproduktion, die normative Denkweisen systematisch unterläuft.
Diese Theorien liefern Begriffe und Methoden, mit denen sich Herrschaft sichtbar machen lässt – nicht nur im ökonomischen oder juristischen Sinne, sondern auch in Sprache, Repräsentation, Bildungsinhalten. Sie ermöglichen es, Erfahrungen zu artikulieren, die in klassischen Diskursen keinen Platz hatten. Gleichzeitig werfen sie ein Licht auf die Universität selbst als machtvolles System: Wer wird gehört, wer nicht? Wer bestimmt, was als „objektiv“ gilt?
Viele Wissenschaftler*innen – etwa Kimberlé Crenshaw, Angela Davis, bell hooks, Ibram X. Kendi oder Sara Ahmed – haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Fragen nicht nur zu stellen, sondern sie auch aus der Universität hinaus in die Gesellschaft zu tragen. Ihre Texte sind lesbar, zornig, politisch – sie verzichten bewusst auf akademische Unnahbarkeit. Hier entsteht ein Wissen, das nicht nur erklärt, sondern handlungsfähig macht.
✊ Der Aktivismus als Denkform
Auf der anderen Seite des Spektrums steht ein Aktivismus, der oft mit Theorien arbeitet – bewusst oder intuitiv. Die Black Lives Matter-Bewegung ist nicht aus einem Forschungsprojekt entstanden, sondern aus einem Akt der Trauer und des Widerstands. Doch ihr Diskurs ist durchzogen von theoretischen Linien: Rassismustheorie, Intersektionalität, Erinnerungsarbeit. Ähnliches gilt für Klimabewegungen wie Fridays for Future oder Gruppen wie Extinction Rebellion, die Fragen nach globaler Gerechtigkeit und kolonialer Verantwortung in die ökologische Debatte einbringen.
Wokeness in diesen Bewegungen ist keine bloße Pose. Sie ist eine Praxis des politischen Denkens, die nicht auf akademische Anerkennung wartet. Das führt zu Spannungen: Manche Wissenschaftlerinnen fürchten die Moralisierung der Debatte, Aktivistinnen wiederum werfen der Wissenschaft Elfenbeinturm-Distanz vor. Doch in dieser Reibung liegt auch die produktive Energie einer neuen öffentlichen Intellektualität – hybrid, mehrsprachig, medial vernetzt.
🔄 Neue Öffentlichkeiten – neue Herausforderungen
Die Grenze zwischen akademischer Theorie und öffentlichem Diskurs ist durchlässiger geworden. Das hat zur Folge, dass sich wissenschaftliche Begriffe – wie etwa „woke“, „intersektional“, „toxisch“, „strukturell“ – in den Alltag eingeschrieben haben. Sie werden zitiert, vereinfacht, verfremdet – und oft auch instrumentalisiert. Nicht selten findet man sie in Feuilletons karikiert oder in rechten Diskursen zum „Feindbild Wokeismus“ aufgeblasen. Der Begriff woke ist so zum Projektionsraum geworden: für Ängste, Abwehr, aber auch für Hoffnungen.
In dieser Gemengelage stellt sich die Frage: Wie bleibt kritisches Denken wirksam, ohne sich zu entleeren? Die Antwort liegt vielleicht in der Offenheit des Begriffs selbst. Wokeness ist keine Lehre, kein abgeschlossenes Theoriegebäude – sondern ein sich wandelnder Diskursraum, in dem Wissenschaft und Aktivismus, Theorie und Praxis, Zweifel und Engagement miteinander ringen.
Was dabei entsteht, ist keine Einheitsfront, sondern eine vielstimmige Bewegung des Fragens. Und vielleicht ist genau das ihr stärkstes Argument: Dass sie die Komplexität der Gegenwart nicht banalisieren will, sondern ernst nimmt – auch auf die Gefahr hin, missverstanden zu werden.
VI. Der Kampf um den Begriff – Wokeness als Chiffre
Es ist ein altes Spiel, das die Öffentlichkeit gerne mit unbequemen Begriffen treibt: Zuerst ignoriert man sie, dann verspottet man sie – und wenn das nicht reicht, erklärt man sie zur Bedrohung. Was einst als Ausdruck von Bewusstsein, kritischer Haltung und Gerechtigkeitssinn begann, ist in der öffentlichen Debatte vielerorts zu einer Chiffre für Übertreibung, Denkverbot und moralische Selbstüberhebung geworden. „Wokeness“ ist heute für viele kein Ideal mehr, sondern ein Reizwort. Ein Signal, das Empörung triggert, Spaltung erzeugt, Clicks generiert.
Kaum ein Begriff der Gegenwart ist so polemisch aufgeladen. In konservativen und rechten Medien wird woke gleichgesetzt mit einer angeblich übergriffigen, hypermoralischen Linken, die Sprache „säubert“, Geschichte „umschreibt“ und abweichende Meinungen „cancelt“. Der Begriff dient dabei nicht der Analyse, sondern der Abwehr. Wer als „woke“ gilt, ist in dieser Logik nicht mehr diskursfähig – sondern bereits Teil eines imaginären Problems.
Ein Blick auf die Rhetorik zeigt: „Die woken Eliten“, „woker Genderwahn“, „woke Ideologen“ – das sind Formeln, die nicht erklären wollen, sondern markieren. Sie erzeugen ein Feindbild, das sich prächtig eignet, um bestehende Machtverhältnisse zu verteidigen. Die Ironie dabei: Der Begriff, der einst gegen strukturelle Blindheit antrat, wird nun benutzt, um neue Blindheit zu rechtfertigen – jene gegenüber Rassismus, Sexismus, Klassismus oder kolonialer Kontinuität.
Medial verstärkt wird diese Verzerrung durch gezielte Skandalisierung. Einzelne Anekdoten – etwa die Umbenennung einer Straße, die Kritik an einem Kinderbuch oder eine kontroverse Vorlesung – werden aus dem Kontext gerissen und als Beweis für eine „woke Übernahme“ präsentiert. Aus Einzelfällen werden Muster konstruiert, aus Debatten Bedrohungsszenarien. In dieser Logik ist Wokeness nicht mehr Ausdruck von Wachheit, sondern von Kontrollverlust. Was in Wahrheit geschieht: Eine Verschiebung des Diskursrahmens. Die Frage ist nicht mehr, ob Rassismus oder Diskriminierung existieren – sondern, ob man überhaupt noch darüber sprechen darf.
Besonders perfide wird es, wenn sich konservative Akteure den Diskurs der Meinungsfreiheit aneignen. Nicht selten klagen genau jene, die jahrzehntelang über Definitionsmacht verfügten, nun über „Zensur“, weil ihre Sichtweisen auf Kritik stoßen. Dabei ist Kritik kein Maulkorb – sie ist ein Element demokratischer Auseinandersetzung. Die Gleichsetzung von Wokeness mit Unterdrückung verdreht die Realität: Nicht zu viel Kritik ist das Problem, sondern oft zu wenig Bereitschaft, sich ihr zu stellen.
Natürlich gibt es auch innerhalb „woker“ Milieus Debatten über Maß, Stil und Wirkung. Und ja, es gibt Fälle von Übertreibung, von übereifrigem Moralisieren, von dogmatischer Sprache. Aber diese Einzelfälle sind kein Argument gegen das Prinzip, sondern Anlass zur Reflexion innerhalb einer Bewegung, die sich – wenn sie sich treu bleibt – ohnehin der Selbstkritik verpflichtet fühlt.
Denn Wokeness ist nicht statisch. Sie ist ein sich wandelnder Prozess, ein Such- und Lernmodus. Dass sie heute zur Karikatur gemacht wird, zeigt nicht ihre Schwäche, sondern ihre gesellschaftliche Wirksamkeit. Nur wer stört, wird bekämpft.
So wird der Begriff zum Schauplatz eines größeren kulturellen Konflikts: zwischen alten Ordnungen und neuen Sensibilitäten, zwischen Macht und Mitgefühl, zwischen autoritärer Nostalgie und emanzipatorischer Zukunft. Wer heute über Wokeness spricht, spricht nicht nur über ein Wort – sondern über das Verhältnis von Öffentlichkeit, Wahrheit, Macht und Verantwortung.
VII. Ausblick & Fazit – Eine neue Wokeness?
Vielleicht ist es an der Zeit, Wokeness nicht zu verteidigen, sondern zu befreien. Von ihrer medialen Verzerrung. Von ihrer Vereinnahmung durch rechte Diskurse. Aber auch von ihren eigenen Fallstricken: der Moralisierung, der Erregung, der Ungeduld mit Ambivalenz. Denn wer „woke“ sein will, muss mehr sein als auf der richtigen Seite der Geschichte – er muss bereit sein, sich mit ihr auseinanderzusetzen, in all ihrer Komplexität, in all ihren Brüchen.
Was dieser Essay zu zeigen versucht hat, ist dies: Wokeness ist kein Trend, keine Pose, keine Cancel-Maschine. Sie ist, richtig verstanden, eine Haltung – wach, kritisch, historisch sensibel. Sie ist das Bemühen, nicht nur zu erkennen, was falsch läuft, sondern warum, wie lange schon, für wen – und was das eigene Denken damit zu tun hat.
In ihrer besten Form ist Wokeness eine Ethik der Aufmerksamkeit. Eine Praxis, die nicht auf Eindeutigkeit zielt, sondern auf Genauigkeit. Eine Haltung, die nicht ausgrenzt, sondern differenziert. Sie ist unbequem, weil sie nicht nur den Gegner konfrontiert, sondern das Selbst in die Pflicht nimmt. Wer „woke“ ist, muss nicht alles wissen, aber er muss bereit sein zu lernen, zu hören, zu verlernen – und das immer wieder.
Doch vielleicht braucht es für die Zukunft einen neuen Begriff – oder besser: eine neue Wokeness. Eine, die nicht nur Missstände benennt, sondern Räume noch weiter öffnet. Die nicht nur protestiert, sondern auch übersetzt und interpretiert. Die Theorie praktiziert – und Praxis in die Theorie zurückspielt. Eine Wokeness, die viele Zwischentöne kennt, die Grauzonen, die Unsicherheiten – und sie nicht als Schwäche, sondern als Teil der Wahrheit und auch als Weg zur Erkenntnis anerkennt.
Denn was sonst wäre Fortschritt, wenn nicht die Fähigkeit, sich von anderen irritieren zu lassen – und dabei trotdem nicht den Halt zu verlieren? Vielleicht ist das die eigentliche Aufgabe für eine neue Wokeness: nicht Recht zu haben, sondern Recht zu schaffen – gemeinsam, tastend, fragend.
Die Frage ist also nicht, ob wir woke sein sollten. Sondern: Wie?
Literaturverzeichnis
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Weitere Literatur zur Einführung
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- Seyla Benhabib (1992): Situating the Self: Gender, Community and Postmodernism in Contemporary Ethics. New York: Routledge.
- Robin DiAngelo (2018): White Fragility: Why It’s So Hard for White People to Talk About Racism. Boston: Beacon Press.