Wenn Konservative Dompteur*in spielen
„Neutralität ist schwarz-weiß“
Frauen, Fahnen und der reaktionäre Traum von Ordnung
Das Parlament ist kein Zirkuszelt, sagte Friedrich Merz, als es darum ging, ob zum Christopher Street Day die Regenbogenflagge über dem Reichstag wehen dürfe. Man müsse das Hohe Haus vor symbolischer Überfrachtung schützen, so der CDU-Vorsitzende. Und weil Symbolpolitik neuerdings offenbar die größte Bedrohung der parlamentarischen Demokratie darstellt – gleich nach Genderstern und Wärmepumpe –, griff auch Julia Klöckner beherzt zum Rohrstock: Als neue Bundestagspräsidentin untersagte sie das Hissen der Regenbogenfahne am Parlament gleich ganz.
Ein starkes Zeichen. Oder besser gesagt: kein Zeichen. Sondern selbst Symbol für eine Strömung in der Demokratie, die autoritäre Strukturen anstrebt.
I. Ordnung muss sein – besonders bei Zeichen
Klöckner begründete ihr Verbot mit dem Verweis auf eine angebliche Neutralität. Das Parlament dürfe keine parteiliche Symbolik zeigen.
Dass Neutralität in diesem Fall bedeutet, keine Solidarität zu zeigen mit einer Gruppe, die weltweit verfolgt, beschimpft, entrechtet wird – geschenkt. Hier wird Neutralität verstanden als Unauffälligkeit, als etwas Nicht-Störendes, als Unsichtbarkeit. Als Nichts.
Doch gerade das Nichts spricht. Es spricht von einer fiktiven Ordnung, die verloren gegangen zu sein scheint und nun wiederhergestellt werden soll – einer symbolischen Hygiene, die sich nach außen hin als staatsmännische Mäßigung tarnt, in Wahrheit aber eine disziplinierende Geste ist:
Wer hier als Bürger*in zählt, entscheidet nicht der demokratische Souverän, sondern der ästhetische Geschmack der Hausleitung.
Die Regenbogenflagge ist in diesem Kontext nicht nur ein buntes Tuch. Sie ist ein Störsignal in einer Ordnung, die sich auf undeutliche Normalität beruft – eine Ordnung, die von manchen als natürlich, von anderen als deutscher Abend empfunden wird.
II. Zeichen, Körper, Kontrolle
Was als Symbolpolitik beginnt, endet oft beim Körper. Denn wer sich so sehr für die äußere Erscheinung des Parlaments interessiert, beginnt irgendwann, sich auch für die innere Beschaffenheit seiner Bürger*innen zu interessieren. Genauer gesagt: ihrer Geschlechtlichkeit.
Der Kampf um die Regenbogenflagge ist kein belangloser Kulturkampf. Er ist Teil einer größeren Bewegung, die das Recht, Frau zu sein, wieder an biologische Voraussetzungen knüpfen will – mit erstaunlicher Rücksichtslosigkeit.
Sehr treffend hat das die Historikerin und Autorin Leonie Schöler beschrieben: In ihrer aktuellen Kolumne im Spiegel zeichnet sie die politische Verfolgung von trans Personen als das nach, was sie ist – eine systematische, staatlich gestützte Einschränkung von Selbstbestimmung und Freiheit. Eine Regression.[1]
Diese Bewegung kommt nicht nur aus der rechten Ecke. Auch vermeintlich feministische Stimmen tragen dazu bei.
TERFs – Trans-Exclusionary Radical Feminists – behaupten, Frauenrechte zu schützen, während sie in Wahrheit andere Frauen delegitimieren.
„Biologische Wahrheit“ wird zur politischen Waffe. Und mit ihr: die Kontrolle.
III. Wenn Weiblichkeit bewiesen werden muss
In einer Welt, in der Geschlecht wieder eindeutig sein soll, gerät auch die Freiheit von cis Frauen in Gefahr.
Wer heute trans Frauen aus dem Frauensport ausschließen will, weil sie „nicht weiblich genug“ seien, überprüft morgen auch die Stimmenlage, das Brustgewebe oder die Behaarung von cis Frauen.
Die Kontrolllogik ist nicht aufzuhalten, wenn sie einmal aktiviert ist. Und sie tarnt sich bestens: Angeblich will sie schützen.
Wer prüft, wer „wirklich“ eine Frau ist, schützt nicht – er klassifiziert, verwaltet, grenzt aus.
Das hat mit Feminismus so viel zu tun wie ein Kassenbon mit fairen Preisen.
IV. Neutral wird gewertet
Was Klöckner „Neutralität“ nennt, ist in Wirklichkeit ein Normensystem mit klaren Ausschlüssen.
Es ist die politische Ästhetik einer Ordnung, die nur so lange als „Mitte“ erscheinen kann, solange man nicht zu genau hinschaut.
Wer die Regenbogenflagge entfernt, entfernt nicht nur ein Symbol, sondern auch die Menschen, die sie sichtbar machen soll.
Es geht nicht um eine Flagge. Es geht um die Erlaubnis, überhaupt in Erscheinung zu treten. Es ist die demokratische Garantie der Vielfalt und Individualität.
Die Deutungshoheit darüber, wer Mann und wer Frau ist, wird also klammheimlich von einer reaktionären Minderheit übernommen, die eigentlich für eine Mehrheit einer pluralen Gesellschaft stehen sollte.
V. Die autoritäre Versuchung
Der neue Konservatismus kokettiert gern mit Ordnung.
Doch was heute als Geschmacksurteil daherkommt („Zirkuszelt!“), wird morgen zur Rechtsnorm („Nur wer… ist, darf…“).
Der Rückfall in biologistisches Denken, in geschlechtliche Reinheitsfantasien, ist längst nicht mehr nur Randerscheinung.
Er ist salonfähig geworden – mit freundlicher Unterstützung von CDU, Supreme Courts und Bestsellerautorinnen mit Zigarillo.
Und weil Ordnung nie neutral ist, sondern immer ein Machtverhältnis ausdrückt und manifestiert, richtet sich diese Ordnung zunehmend gegen das Individuum.
Gegen dessen Abweichung, dessen Ambivalenz, dessen Freiheit.
VI. Freiheit für alle – oder keine
Wer heute meint, ausgerechnet die queere Flagge müsse ausgerechnet über dem Parlament weichen, zeigt damit nur, wer meint Besitzer*in der Demokratie zu sein – und wer nicht dazu gehören soll.
Und wer meint, das alles sei übertrieben, dem sei gesagt:
Auch Cis-Frauen galten einst als „zu hysterisch“ fürs Wahlrecht.
Auch Homosexualität galt einst als Krankheit.
Regenbogenflaggen waren mal ein Symbol für Hoffnung und ein starkes und positives Signal für die Vielfalt demokratischer Gesellschaften.
Inzwischen geht es nicht mehr nur um Hoffnung.
Inzwischen geht es um Verteidigung.
Nicht der Flagge.
Sondern der Freiheit.
- Leonie Schöler: „Die politische Verfolgung von trans Personen schreitet aktuell brutal voran“, in: SPIEGEL Geschichte, 9. Juli 2025.
https://www.spiegel.de/geschichte/trans-personen-politische-verfolgung-beklaute-trans-frauen-schreitet-voran-aber-der-kampf-geht-nur-gemeinsam-a-f2bb83b8-8d81-41ac-be73-b46e7b32cc00↩︎