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Warum wir bei Amokläufen über Männlichkeit sprechen müssen

Am 10. Juni 2025 erschüttert ein Amoklauf die österreichische Stadt Graz. Der Täter, ein 21-jähriger ehemaliger Schüler des Gymnasiums in der Dreierschützengasse, betritt das Schulgelände mit zwei legal erworbenen Waffen. Er tötet zehn Menschen, verletzt mindestens zwölf schwer – und erschießt sich am Ende selbst.

Es ist eine grausame Tat, erschütternd in ihrer Zielgerichtetheit, aber keineswegs einzigartig. Muster und Reaktionen gleichen sich immer wieder.


Der bekannte Ablauf: Tat – Entsetzen – Einzelfallanalyse

Nach Gewaltexzessen folgen stets dieselben Rituale: Presseberichte, Live-Ticker und erste psychologische Spekulationen. Im Zentrum stehen persönliche Merkmale des Täters: psychische Instabilität, frühere schulische Probleme, soziale Isolation, Mobbing oder Anzeichen einer Radikalisierung. Der Fokus bleibt individuell, als wäre der Amoklauf ein bloßer Fehler im ansonsten reibungslos laufenden gesellschaftlichen System.

Doch längst müsste klar sein: Diese Taten sind nicht nur persönliche Tragödien, sondern Ausdruck eines kollektiven Versagens. Das Muster ist deutlich erkennbar: Es sind fast immer junge Männer.


Eine erschreckend konstante Reihe

Die Statistik zeigt erschütternde strukturelle Ähnlichkeiten bei folgenschweren Amokläufen an europäischen Schulen seit den 1990er Jahren:

  • Dunblane (Schottland), 1996: 16 Kinder und eine Lehrerin erschossen.
  • Erfurt (Deutschland), 2002: 16 Tote durch einen 19-jährigen Ex-Schüler.
  • Winnenden (Deutschland), 2009: 15 Tote, Täter war ein Schüler mit legaler Waffe.
  • Trollhättan (Schweden), 2015: Drei Tote durch einen rassistisch motivierten 21-Jährigen.
  • Kasan (Russland), 2021: Acht Tote durch einen ehemaligen Schüler.
  • Örebro (Schweden), Februar 2025: Zehn Tote auf einem Schulcampus.
  • Graz (Österreich), Juni 2025: Zehn Tote, zwölf Schwerverletzte durch einen Ex-Schüler.

Die Täter sind fast ausschließlich männlich, meist zwischen 16 und 25 Jahre alt, häufig ehemalige Schüler der jeweiligen Einrichtungen. Der Suizid ist oft Teil des Plans. Das Muster ist deutlich: Eine empfundene männliche Ohnmacht wird durch absolute Gewalt in eine vermeintliche Allmacht verwandelt.


Der verdrängte Faktor: Männlichkeit

Es ist auffällig, wie selten das Geschlecht der Täter als relevante gesellschaftliche Kategorie ernsthaft diskutiert wird. Dabei ist es kein Zufall, dass Amokläufer fast immer männlich sind. Dahinter steckt eine gesellschaftlich geprägte Form von Männlichkeit, die emotionalen Ausdruck unterdrückt, Schwäche ablehnt und Gewalt als letzte Ausdrucksmöglichkeit übrig lässt.

Viele dieser Täter verbindet soziale Kränkung, Isolation und narzisstische Verletzungen. Die Gewalttat wird zur verzweifelten Mitteilung: „Ich existiere. Ich bin bedeutend.“

Diese Taten entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern spiegeln gesellschaftliche Normen wider, die männliche Verletzlichkeit stigmatisieren, während sie Aggression legitimieren.


Der Mythos vom Einzelfall

Die Reduktion solcher Taten auf individuelle psychische Störungen ist analytisch unzureichend und politisch bequem. Sie erlaubt, den Blick vor systemischen Ursachen wie toxischer Männlichkeitsprägung, mangelnder emotionaler Bildung und permissivem Zugang zu Waffen zu verschließen.

Der Amoklauf in Graz war keine Ausnahme, sondern das Resultat einer strukturellen Blindheit gegenüber sozialen Bedingungen, die männliche Gewalt fördern.


Was jetzt getan werden muss

Es reicht nicht aus, nach jeder Tat nur Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen. Auch die Diskussion um Waffenbesitz ist unvollständig, solange sie kulturelle Ursachen ignoriert.

Dringend notwendig ist eine umfassende gesellschaftliche Debatte über Männlichkeitsbilder:

  • Schaffung von Räumen, in denen Jungen und Männer offen Gefühle, Schwächen und Scheitern zeigen dürfen.
  • Frühzeitige, nicht pathologisierende Interventionen bei sozialer Isolation und schulischer Ausgrenzung.
  • Konsequente Bildungsarbeit über Geschlechterrollen, Macht und Gewalt.
  • Verantwortungsvolle Berichterstattung, die gesellschaftliche Rahmenbedingungen statt individueller Täterprofile in den Mittelpunkt stellt.

Graz ist nicht vorbei

Der Täter von Graz war kein Monster, sondern ein Produkt unserer Gegenwart und ihrer blinden Flecken. Wenn wir weiterhin so tun, als seien solche Taten unerklärlich und unvermeidbar, wird Graz nicht das letzte Kapitel sein, sondern lediglich ein weiterer Vorfall in einer langen Reihe, die wir längst hätten unterbrechen können – wenn wir die richtigen Fragen gestellt hätten.

Was bringen wir jungen Männern bei – und was verweigern wir ihnen?


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