Die unsichtbare Hand – Wie Wissenschaft zur Manipulation wird
Edward Bernays und die instrumentalisierte Vernunft
Die Geschichte der Moderne ist auch eine Geschichte der Begriffe, die ihre Unschuld verlieren. Freiheit, Fortschritt, Vernunft – einst Signaturen der Aufklärung – lassen sich unter bestimmten Bedingungen in ihr Gegenteil verkehren. Dann ist nicht mehr die Wahrheit das Ziel des Denkens, sondern dessen Nützlichkeit. Nicht mehr die Autonomie des Einzelnen, sondern seine Steuerbarkeit.
Wissen, das einst der Emanzipation dienen sollte, wird zur Ressource – zur Ware, zur Strategie, zur Waffe. Kaum jemand verkörpert diesen Umschlag so paradigmatisch wie Edward Bernays. Als Neffe Sigmund Freuds verband er die Tiefen der Psychoanalyse mit den Interessen von Industrie, Medien und Staat – und schuf damit eine neue Form von Macht: unsichtbar, emotional, scheinbar rational.
Bernays ist kein Theoretiker der Propaganda – er ist ihr Ingenieur. Während andere noch über Öffentlichkeit nachdenken, organisiert er sie. Während Demokratien sich im Ideal der Debatte üben, schafft er Debattenrealitäten, die von außen orchestriert sind.
Sein Wirken zeigt, wie leicht sich psychologisches Wissen pervertieren lässt, wenn es aus dem Dienst der Erkenntnis in den Dienst der Wirkung tritt. Und wie gefährlich eine Gesellschaft wird, die sich nicht mehr durch Argumente bewegt, sondern durch Affekte – erzeugt im Labor der Meinungsmacher.
Die Anwendung psychologischer Erkenntnisse dient nicht der Selbsterkenntnis, sondern der Fremdsteuerung; sie wirkt verdeckt, erzeugt Affekte, aber tarnt sich als Rationalität.
Psychoanalyse als Steuerungsinstrument
Von der Selbsterkenntnis zur Markteroberung
Die Psychoanalyse war ursprünglich ein Werkzeug der Aufklärung – ein Versuch, das Irrationale im Menschen sichtbar und sagbar zu machen. Doch kaum ein Jahrhundert später wird sie zur Quelle einer neuen Form der Dunkelheit: einer Dunkelheit, die nicht aus Unwissen besteht, sondern aus gelenkter Sicht.
Edward Bernays erkannte das doppelte Gesicht der Psychoanalyse. Als Neffe Sigmund Freuds verfügte er nicht nur über biografische Nähe, sondern auch über eine instinktive Einsicht in ihr Machtpotenzial. Wo Freud sich mühte, das Unbewusste zu erhellen, nutzte Bernays es als Ressource. Für ihn war die Psyche kein Rätsel – sondern ein Markt.
Sein Ansatz war radikal: Wenn der Mensch primär durch Triebe, Ängste und symbolische Ersatzhandlungen gesteuert wird, dann lassen sich Meinungen nicht durch Argumente formen, sondern durch Inszenierungen. Es geht nicht um das, was gesagt wird – sondern um das, was gesehen, gefühlt, unbewusst verknüpft wird.
Ein berühmtes Beispiel: die „Torches of Freedom“-Kampagne von 1929. In einer Zeit, in der Frauen das öffentliche Rauchen verwehrt blieb, verband Bernays das Tabu mit dem Ideal der Emanzipation. Die Zigarette wurde zum Symbol der Selbstbestimmung – zur „Fackel der Freiheit“. Und damit zum verkaufbaren Akt. Was als Aufbruch erschien, war in Wahrheit ein Absatzimpuls.
Die Genialität dieses Schachzugs lag in der Verwechslung von Protest und Produkt, von Selbstermächtigung und Markenbindung. Die Frau, die sich öffentlich eine Zigarette anzündete, glaubte sich als Subjekt, wurde jedoch längst als Zielgruppe adressiert. Ihre Revolte war kalkuliert – von außen, unsichtbar, vorinszeniert.
Hier beginnt die tiefere Gefahr der psychologischen Steuerung: Sie erzeugt affektive Reaktionen, die sich als autonome Entscheidungen ausgeben. Die Suggestion ist perfekt, weil sie nicht als solche erscheint. Bernays’ Methode war nicht die Manipulation im klassischen Sinne, sondern die Skripterstellung für scheinbar freie Handlungen.
Wissenschaftliche Autorität und ihre Inszenierung
Die Verwandlung von Expertise in Suggestion
Wissenschaft lebt von Zweifel, von Überprüfung, von methodischer Strenge. Doch in der Öffentlichkeit tritt sie selten so auf. Dort erscheint sie in einfacher Form: als Siegel, als Urteil, als beruhigendes „Die Forschung sagt“. Und genau hier setzt Edward Bernays an – nicht am Stand der Forschung, sondern an der Wirkung ihres Anscheins.
In seinem Auftrag für die Beech-Nut Packing Company verwandelte er ein banales Konsuminteresse – mehr Speck verkaufen – in eine medizinisch untermauerte Kulturpraxis. Die Methode war schlicht und zugleich brillant: Er ließ tausende Ärzte befragen, ob ein „kräftiges Frühstück“ gesünder sei als ein leichtes. Die Antwort war vorhersehbar. Die Verwendung war kalkuliert.
Die Botschaft lautete: „5.000 Ärzte empfehlen Speck und Eier“. Nicht: „Die Mehrheit hat in einer suggestiv formulierten Umfrage zugestimmt.“ Nicht: „Die Fragestellung war tendenziös.“ Nicht die Originalfrage genannt, sondern eine gewünschte Schlussfolgerung mit Autorität untermauert: Wie eine fertige Wahrheit, kurz und unumstößlich.
So entstand das bis heute gültige Ideal des „amerikanischen Frühstücks“ – nicht durch Tradition, nicht durch Ernährungserkenntnis, sondern durch eine synthetische Normalität, entworfen im Dienste der Absatzsteigerung.
Bernays hat dabei nichts gefälscht. Er hat nur die Sprache der Wissenschaft benutzt, ohne deren Geist zu teilen. Aus Forschung wurde Folie. Aus Autorität wurde Alibi. Die Öffentlichkeit verlangte Orientierung – und bekam ein Etikett.
Und wie bei jeder gelungenen Suggestion wurde der Übergang nicht bemerkt. Der Konsum wird rationalisiert, das Produkt als Notwendigkeit gefühlt – nicht durch Zwang, sondern durch den Eindruck, „es sei doch gesund“. Der rationale Schein legitimiert die emotionale Entscheidung.
Hier zeigt sich ein Prinzip, das bis heute anhält:
Nicht die Wahrheit zählt, sondern ihre Form.
Wer den Anschein von Wissenschaftlichkeit erzeugen kann, braucht keine Beweise.
Er braucht nur das richtige Framing – und die Bereitschaft der Öffentlichkeit, sich darauf einzulassen.
Propaganda als politisches Machtmittel
Wenn Überzeugung zur Mobilmachung wird
In Demokratien ist die öffentliche Meinung die Legitimationsquelle politischer Entscheidungen. Doch was, wenn diese Meinung nicht im fairen Austausch entsteht, sondern erzeugt wird? Wenn sie nicht widerspiegelt, was gedacht wird – sondern bereits vorgegeben wird, was gedacht werden soll?
Edward Bernays war nicht nur PR-Berater, er war auch staatlich legitimierter Propagandist. Im Ersten Weltkrieg arbeitete er im Committee on Public Information – jener US-Behörde, die sich zum Ziel setzte, aus einer kriegsskeptischen Bevölkerung eine kämpfende Nation zu machen. Nicht durch Repression, sondern durch Narrative.
Der zentrale Trick war die Moralisierung geopolitischer Interessen. Der Eintritt in den Krieg wurde nicht als strategische Entscheidung vermittelt, sondern als Notwendigkeit:
„To make the world safe for democracy.“ (Woodrow Wilson)
Die Deutschen wurden zu „Hunnen“, die Zivilisation galt als bedroht, der Krieg als Verteidigung der Menschlichkeit. Bernays wusste: Wer Angst und Ideale zugleich anspricht, erzeugt Bindung. Es ging nicht darum, zu informieren, sondern zu mobilisieren – psychologisch, kulturell, symbolisch.
Diese Strategie wurde Jahrzehnte später zur Blaupause für einen anderen Einsatz:
1954, im Dienste der United Fruit Company, organisierte Bernays eine mediale Vorfeldkampagne, die den demokratisch gewählten Präsidenten von Guatemala, Jacobo Árbenz, als kommunistische Bedrohung darstellte. Obwohl kein Beleg für sowjetische Einflussnahme vorlag, erzeugte Bernays den Eindruck eines „roten Vorpostens“ in der westlichen Hemisphäre.
Er fütterte Journalist*innen mit vorformulierten Berichten, organisierte Reisen, inszenierte Bedrohung – und entkoppelte dabei geschickt Information von Wahrheit. Entscheidend war nicht, was war, sondern was geglaubt wurde. Als die mediale Empörung ihren Höhepunkt erreichte, folgte der Putsch – organisiert von der CIA, moralisch vorbereitet durch Public Relations.
Was hier sichtbar wird, ist kein Einzelfall, sondern ein Systemwechsel:
Politik kommuniziert nicht mehr nur über Inhalte, sondern über affektive Narrative. Wahrheit wird zur strategischen Größe. Die Meinung der Bevölkerung wird nicht gefragt, sondern vorstrukturiert – über Medien, Bilder, Gefühle.
Die größte Leistung der Propaganda ist dabei nicht die Lüge, sondern die Erzeugung einer Realität, die gar nicht mehr als Propaganda erscheint.
Die Popularisierung der Psychoanalyse – ein doppelter Boden
Vom Dialog mit dem Unbewussten zur Steuerung durch Suggestion
Die Psychoanalyse war nie leicht zugänglich. Ihre Sprache war sperrig, ihre Denkweise unbequem, ihre Absicht tiefgreifend: das Subjekt mit dem zu konfrontieren, was es nicht wissen will. In den USA der 1920er war Freud nahezu unbekannt – zu europäisch, zu intellektuell, zu unpraktisch. Bis Edward Bernays erschien.
Bernays sah in Freuds Theorie kein Heilungsversprechen, sondern ein Werkzeug: eine Bedienungsanleitung für die menschliche Schwäche. Für Trieb, Scham, Angst – und das Bedürfnis, geliebt zu werden, ohne sich zeigen zu müssen.
Er betrieb keine klassische Aufklärungsarbeit, sondern eine strategische Übersetzung: Er machte Freud nützlich – für Werbung, für Erziehung, für öffentliche Kommunikation. Nicht durch Lehre, sondern durch Inszenierung.
Er sorgte dafür, dass Freuds Werke übersetzt, publiziert, zitiert wurden. Er verband ihre Inhalte mit Alltagsthemen – Kleidung, Kindererziehung, Schönheit – und rückte sie damit aus dem Bereich des Therapeutischen in den Bereich des Vermarktbaren.
In dieser Popularisierung liegt ein Paradox:
Was einst zur Stärkung des Ichs gedacht war, wird zur Verstärkung des Reizes, zur Optimierung der Beeinflussung. Das Unbewusste wird nicht erkannt, sondern ausgenutzt.
Freud selbst stand dem skeptisch gegenüber. Er wusste, dass man das Begehren nicht zum Verschwinden bringen kann – aber er hielt es für moralisch geboten, ihm ins Gesicht zu sehen. Bernays hingegen erkannte im Begehren einen Hebel, eine Verkaufsfläche. Die Tiefenpsychologie wurde zur Oberfläche der Werbung.
So wurde die Psychoanalyse Teil der Konsumgesellschaft: nicht als Befreiungslehre, sondern als Formungsapparat. Nicht mehr das Subjekt erforscht sein Inneres – sondern das System kartiert es, um es zu steuern.
Fazit: Aufklärung als gesteuerte Simulation
Wenn der Mensch glaubt, frei zu wählen – und längst gewählt wurde
Edward Bernays hat keine neue Welt erfunden. Er hat nur gezeigt, wie sie funktioniert. Nicht durch Argumente, sondern durch Affekte. Nicht durch Wahrheit, sondern durch deren Form.
Er war kein Philosoph, kein Ethiker – aber ein Praktiker der Vernunft in ihrer dienenden Form. In seiner Welt fragt man nicht: Was ist wahr?, sondern: Was wirkt?
Was bei ihm aufscheint, ist das Endspiel der Aufklärung unter den Bedingungen der Massengesellschaft.
Ein Mensch, der denkt, dass er denkt, wird lenkbar.
Ein Mensch, der spürt, aber glaubt, er handle vernünftig, ist steuerbar.
Ein Mensch, der zwischen Wunsch und Wille nicht mehr unterscheidet – der ist bereit für jede Kampagne, die sich als Freiheit verkleidet.
Die Methoden, die Bernays entwickelte, sind heute Alltag:
– Wenn Produkte als Haltung erscheinen.
– Wenn Kriege mit Werten verkauft werden.
– Wenn Wissenschaft zur Kulisse wird.
– Wenn das Bedürfnis nach Orientierung mit vorgefertigten Narrativen beantwortet wird.
Dann ist die Propaganda nicht mehr Ausnahme – sie ist die Form.
Dann wird Meinung nicht mehr unterdrückt – sie wird erzeugt.
Dann ist Aufklärung nicht mehr Befreiung – sondern Simulation.
Die eigentliche Tragik liegt nicht darin, dass manipuliert wird.
Sondern darin, wie bereitwillig wir uns in Strukturen bewegen, die diese Manipulation unsichtbar machen.
Die dunkle Seite der Aufklärung hat keinen Namen.
Aber sie spricht mit unserer Stimme.
Sie verkauft sich als Vernunft.
Und wirkt – tief, nachhaltig, unbemerkt.
Literaturverzeichnis
Monografien von Edward Bernays
- Bernays, Edward L.: Propaganda. New York: Horace Liveright, 1928.
- Bernays, Edward L.: Biography of an Idea: Memoirs of Public Relations Counsel Edward L. Bernays. New York: Simon and Schuster, 1965.
Sekundärliteratur über Bernays
- Tye, Larry: The Father of Spin: Edward L. Bernays and the Birth of Public Relations. New York: Crown Publishers, 1998.
- Ewen, Stuart: PR! A Social History of Spin. New York: Basic Books, 1996.
Zeitgeschichtlicher Kontext
- Creel, George: How We Advertised America. New York: Harper & Brothers, 1920.
- Schlesinger, Stephen / Kinzer, Stephen: Bitter Fruit: The Story of the American Coup in Guatemala. Boston: Harvard University Press, 1982.
- Curtis, Adam (Regie): The Century of the Self. BBC-Dokumentation, 2002 (empfohlen als visuelle Ergänzung zum Thema).
Psychoanalyse und Medien
- Freud, Sigmund: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1921.
- Freud, Sigmund: Briefe 1873–1939. Herausgegeben von Ernst Freud et al., Frankfurt/M.: Fischer, 1991.
- Lears, Jackson: Fables of Abundance: A Cultural History of Advertising in America. New York: Basic Books, 1994.
Hallo Cycloo- Mensch,
geht es im Krieg nicht um Werte bzw. sollte ein Einmischung nicht immer wertegeleitet sein? Also, um den Krieg zu beenden, weil Krieg grausam ist und per se nicht wertegeleitet ist? Und meinst du, dass selbst ein wertegeleitetes Eingreifen nur vorgeschoben ist, um letztlich eigene Interessen zu verfolgen? Aber wir können doch Kriege nicht einfach hinnehmen. Danke für deine Antwort.
Hallo Katrin,
ich räume ein, das mit den Werten ( beim Krieg) ist eine Doppeldeutigkeit,die mir Schopenhauer als Homonym bös angekreidet hätte;) Natürlich ist es sinnvoll Werte ( wie Menschenwürde) zu besitzen, die auch für die Rechtfertigung eines Krieges ganz seriös und ehrlich gelten können; die Werte jedoch, die ich meine sind ganz konkrete Vorteile für einen Mitspieler im System ( z.B. ein Unternehmen mit wirtschaftlichen Interessen), welches diese eigenen Interessen verschleiert oder sie als universelle „Werte“ versucht zu verkaufen.
Viele Grüße
Der Cycloo-Mensch 😉