Neutral ist nicht unpolitisch – Julia Klöckner und die Ordnung der Zeichen

In einem seltsamen Moment parlamentarischer Symbolgeschichte wurde kürzlich entschieden, dass am Bundestag keine Regenbogenflagge zum Christopher Street Day wehen darf. Nicht, weil man etwas gegen queere Sichtbarkeit hätte – ganz im Gegenteil! Sondern aus Gründen der Neutralität. Der Bundestag sei ein Ort überparteilicher Repräsentation, kein Ort für gesellschaftspolitische Stellungnahmen. Sagt Julia Klöckner. Die neue Bundestagspräsidentin.

Julia Klöckner, vormals Agrarministerin, Talkshow-Kachel, Weinkönigin und CDU-Eigenmarke, hat ein neues Profil gefunden: die ordnende Hand im Hohen Haus. Klöckner, so scheint es, ist nicht gekommen, um zu repräsentieren, sondern um durchzugreifen. Mit Klarheit, Konsequenz und einem fast religiösen Verhältnis zur Geschäftsordnung. Sie ist das neue Gesicht eines Präsidiums, das nicht mehr integriert, sondern Maßstäbe setzt. Und das – bei allem Anspruch auf Neutralität – dabei ziemlich klar sagt, wer dazugehört. Und wer nicht.


Ordnung ist eine Haltung

Das Amt der Bundestagspräsidentin ist kein politisches Machtzentrum – jedenfalls nicht im klassischen Sinne. Die Person an der Spitze des Parlaments soll Sitzungen leiten, die Geschäftsordnung durchsetzen, das Parlament nach außen vertreten. Und zwar unparteiisch, integrativ, würdig. Ein Amt der Zurückhaltung, der Form, der Balance. Zumindest in der Theorie.

In der Praxis ist Julia Klöckners Amtszeit von Beginn an ein Projekt der Grenzmarkierungen. Nicht zwischen Regierung und Opposition, sondern zwischen erwünschter Symbolik und politischem „Übergriff“. Zwischen Repräsentation und Repräsentativitätsverweigerung. Wer darf sichtbar sein im Bundestag? Wer darf sein T-Shirt tragen, sein Zeichen zeigen, seinen Tag begehen?

Klöckners Antwort: niemand. Und zwar aus Prinzip. Neutralität bedeutet – in ihrer Lesart – Abwesenheit. Keine Farben, keine Zeichen, keine T-Shirts mit Botschaft. Der Bundestag als weißer Raum. Eine Art diskursive Reinraumtechnik mit Flaggenverbot.

Das klingt streng. Und soll es auch. Klöckner setzt auf Disziplin als Stilmittel. Sie greift ein, wenn Kleidung zu politisch ist, sie untersagt die Beteiligung der Bundestagsverwaltung am CSD, sie hält sich mit Kommentaren zu rechten Provokationen auffallend zurück – und ermahnt mit demselben Tonfall junge Abgeordnete wie parteipolitische Provokateure. Alles ist Regel. Alles ist Ordnung. Alles ist gleich.

Oder?


Die politische Schwerkraft der Neutralität

Denn genau hier liegt das Problem: Neutralität ist keine Leerstelle, sie ist eine politische Setzung. Und eine machtvolle obendrein. Wer entscheidet, welche Zeichen „zu viel“ sind, entscheidet auch, was als „normal“ gilt – und was als abweichend. Wer Symbole unterbindet, reproduziert stillschweigend die hegemoniale Ordnung, in der diese Symbole überhaupt als „besonders“ erscheinen.

Die queere Community, Grüne, Linke und viele Stimmen aus der Zivilgesellschaft kritisieren Klöckners Kurs als autoritär, entpolitisierend und letztlich reaktionär. Nicht weil sie aktiv gegen Vielfalt wäre, sondern weil sie sich aktiv weigert, sie sichtbar zu machen. Im Namen der Gleichbehandlung wird Unsichtbarkeit verordnet. Und diese Unsichtbarkeit ist nicht neutral – sie ist exkludierend.

„Frau Klöckner bedient eine gesellschaftliche Strömung, die darauf abzielt, Menschen ihre freiheitliche Entwicklung zu beschneiden“, sagt Joachim Schulte von Queernet-RLP. Das ist scharf formuliert – aber es trifft einen wunden Punkt.

Denn in einer Gesellschaft, in der Sichtbarkeit immer auch Schutz bedeutet, ist die Verweigerung von Sichtbarkeit ein Signal. Und das empfangen nicht nur Betroffene – sondern auch ihre Gegner.


Applaus von der falschen Seite

Dass ausgerechnet die AfD Klöckners Entscheidungen bejubelt, ist mehr als nur ein Nebeneffekt. Es ist ein politisches Echo. Die Partei, die sonst keine Gelegenheit auslässt, den Bundestag als „System“ zu diffamieren, lobt nun plötzlich die Einhaltung der Geschäftsordnung. Es wirkt wie ein Treppenwitz der Parlamentsgeschichte: Die autoritär auftretende Demokratieverächter feiern die autoritär auftretende Demokratiediziplinarin.

Natürlich: Julia Klöckner ist keine AfD-Sympathisantin. Aber wenn ihre Neutralität vor allem dort greift, wo progressive Symbole auftauchen – und nicht dort, wo autoritäre Provokation geschieht –, dann verschiebt sich der Raum. Nicht juristisch, aber symbolisch. Und Symbole sind nun mal das tägliche Brot des Politischen.


Die Ordnung als Bühne

Klöckners Stil ist nicht neu, aber in dieser Funktion auffällig: ein Ordnungsdenken, das vom Stil zur Ideologie wird. Die Bundestagspräsidentin ist nicht länger erste Bürgerin des Hauses, sondern dessen Disziplinarmanagerin. Sie verwaltet nicht nur Abläufe, sondern Bedeutungen. Und das mit einer Energie, die man sich in anderen Rollen ihres politischen Werdegangs gewünscht hätte.

Dabei entzieht sich Klöckner jeder politischen Zuschreibung mit dem Verweis auf das Amt. Sie ist nicht CDU-Politikerin, sondern Verfassungsorgan. Nicht Frau mit Meinung, sondern Frau der Geschäftsordnung. Eine postpolitische Verwalterin. Oder zumindest: eine, die sich so gibt.

Das funktioniert erstaunlich gut – bis man genauer hinschaut. Denn Klöckners Eingriffe sind eben nicht gleichmäßig verteilt. Wer progressive Zeichen setzt, bekommt Gegenwind. Wer provokant rechte Narrative bedient, bleibt oft unbehelligt. Es ist diese Asymmetrie, die den Verdacht nährt: Die Neutralität ist nicht neutral. Sondern eine politische Entscheidung – verkleidet als Formalie.


Wer darf sichtbar sein?

Im Kern geht es um Sichtbarkeit. Um die Frage, wer im Parlament symbolisch repräsentiert ist – und wer nicht. In einem Haus, das die Vielfalt der Gesellschaft abbilden soll, sind Symbole kein Luxus, sondern Ausdruck dieser Vielfalt. Die Flagge ist kein „besonderes Privileg“, sondern ein Zeichen dafür, dass Menschen dazugehören. Dass ihre Themen gesehen werden. Ihre Kämpfe, ihre Existenzen.

Klöckners Botschaft lautet: Der Bundestag ist kein Ort für so etwas. Aber was ist er dann? Ein Ort der Verwaltungsprotokolle? Der Sitzungsprotokolle? Ein Ort der Wortmeldungen ohne Wirklichkeit?

Wenn ein Parlament keine Zeichen mehr zulässt, dann wird es nicht neutraler – sondern leerer.


Fazit: Klöckner ist nicht das Problem. Aber ein Symptom.

Julia Klöckner ist keine autoritäre Gefahr, kein demokratisches Problem. Sie ist eine Politikerin mit klarer Linie, mit Hang zum Durchregieren und zur ordnungspolitischen Inszenierung. Sie ist nicht der Bruch mit der Demokratie – aber vielleicht der Rückzug vor ihrer Komplexität.

In Zeiten wachsender Polarisierung, in denen die Demokratie Zeichen braucht – Mut, Offenheit, sichtbare Vielfalt –, steht Klöckner für die entgegengesetzte Bewegung: den Rückzug in die Form. In die Regel. In das Parlaments-Protokoll als letzter Ort der Wahrheit.

Das kann man machen. Aber man sollte nicht glauben, dass es unpolitisch ist.

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