Das notwendige Opfer

Zur dunklen Logik des wissenschaftlichen Fortschritts

I. Einleitung
Die Geschichte der modernen Wissenschaft wird gemeinhin als eine Erfolgserzählung dargestellt: Der Mensch löst sich aus den Fesseln des Aberglaubens, stellt Fragen, beobachtet, experimentiert – und findet Antworten, die sein Leben verbessern. Doch unter dieser scheinbar so leuchtenden Oberfläche ist etwas Dunkles: Die Wissenschaft ist nie ohne Opfer geblieben. Nicht zufällig, nicht aus Versehen, sondern strukturell. Das Opfer ist nicht bloß ein Randphänomen vergangener Epochen, sondern ein Element, das sich wie ein roter Faden durchzieht – bis in die Gegenwart hinein. Dieser Essay geht der Frage nach, ob das Prinzip des Opfers nicht in der DNA des wissenschaftlichen Denkens selbst verankert ist.

II. Der Ursprung: Gewalt gegen Natur und Mensch
Mit dem Aufkommen des neuzeitlichen Wissenschaftsdenkens, insbesondere bei Francis Bacon, wird die Natur nicht mehr als Mitwelt oder Schöpfung begriffen, sondern als Objekt, das es zu durchdringen, zu unterwerfen, zu beherrschen gilt. Wissenschaft wird zur Machttechnik, zur Werkzeugkiste der Aufklärung. Dabei werden Lebewesen und am Ende auch der Mensch selbst zum Objekt. Sezierungen, Tierversuche, Menschenexperimente – all das galt als notwendig, um an die Wahrheit zu gelangen. Wahrheit wurde nicht mehr einfach nur entdeckt, sondern gewonnen. Zur Not mit Gewalt.

Exemplarisch hierfür steht die Figur des Edward Jenner, einem englischen Landarzt, der einen Achtjährigen mit Kuhpocken infizierte, um ihn zu immunisieren. Später infizierte er ihn mit den gefährlichen Menschenpocken , um zu testen, ob er auch dagegen immun war. Sein Ziel war klar: Schutz vor einer tödlichen Krankheit für möglichst viele Menschen. Dies gelang und ist bis heute der Beginn von Impfungen im großen Maßstab, die Millionen Menschen vor dem Tode rettete. Doch der Preis war die Gefährdung eines Kindes, das weder verstehen noch zustimmen konnte. Der Fortschritt wurde ermöglicht durch ein kalkuliertes Risiko – getragen nicht von Jenner selbst, sondern von einem anderen. Das Opfer war einkalkuliert.

III. Die Struktur des Opfers: Verfügbarkeit und Machtasymmetrie
In allen Phasen wissenschaftlicher Expansion zeigt sich ein wiederkehrendes Muster: Die Versuchssubjekte sind jene, die wenig oder keinen Schutz genießen. Ob Kinder, Arme, Kolonisierte, Kranke oder Tiere – stets sind es die Stimmenlosen, an denen das Neue erprobt wird. Die wissenschaftliche Methode mag sich verfeinert haben, doch ihr struktureller Kern bleibt erhalten: Um Wissen zu schaffen, muss auf etwas zugegriffen werden, das sich nicht von selbst öffnet. Und dieser Zugriff erzeugt zwangsläufig Hierarchien bzw. nutzt die entsprechenden Machtgefälle.

Auch in der Gegenwart ist das nicht anders. Medikamententests werden oft in Südasien oder Afrika durchgeführt, wo medizinische Infrastruktur fehlt. Tierversuche sind legal, solange sie „verhältnismäßig“ sind. Daten für KI werden aus sozialen Netzwerken gewonnen, in denen Zustimmung oft implizit oder intransparent ist. Der wissenschaftliche Apparat ist eingebettet in globale Machtgefüge, die bestimmen, wessen Körper, wessen Daten, wessen Risiken als „verfügbar“ gelten.

IV. Die Ethik als Nachhut
Zwar existieren heute Ethikkommissionen, Studienprotokolle, internationale Kodizes. Doch sie folgen dem Fortschritt, sie zähmen ihn – sie verhindern ihn nicht. In vielen Bereichen werden ethische Standards eher als Hürden empfunden denn als Grundbedingung. Der Innovationsdruck, die Konkurrenz, die Verheißung auf medizinische Durchbrüche oder technologische Vormachtstellung sorgen dafür, dass das Opfer nie verschwindet, sondern bloß in neue Formen überführt wird: reguliert, verwaltet, verrechtlicht.

Die moderne Ethik bleibt damit strukturell reaktiv. Sie folgt einer Logik des „danach“: Erst kommt der Fortschritt, dann die Kontrolle. Doch was, wenn das Opfer selbst der Motor ist, nicht das Nebenprodukt?

V. Schluss: Wissenschaft zwischen Hoffnung und blinder Stelle
Wissenschaft bleibt eine der größten Errungenschaften menschlichen Denkens. Sie hat Krankheiten besiegt, Leben verlängert, Zusammenhänge offenbart. Aber sie hat auch Opfer gefordert und fordert sie weiter – oft gut verborgen, gut begründet, gut verteilt. Die Idee, dass der Fortschritt nicht neutral, sondern immer auch ein Ausdruck von Macht ist, muss ins Zentrum jeder wissenschaftsethischen Reflexion rücken.

Denn die Frage lautet nicht mehr: „Wie verhindern wir Opfer?“ – sondern ehrlicher: „Wen oder was opfern wir gerade? Und wer hat darüber entschieden?“

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