Tödliche Ordnung – Über staatliche Gewalt oder die Zumutung, vernünftig zu sein

„Demokratie beginnt dort, wo wir aufhören, unsere Institutionen zu verteidigen – und anfangen, sie zu befragen.“

In der Nacht zu Ostersonntag wurde ein junger Mann in Oldenburg von einem Polizisten erschossen. Mehrere Schüsse trafen ihn von hinten. Er starb kurz darauf im Krankenhaus. Was folgte, war ein vertrautes Ritual öffentlicher Reaktion: Bestürzung, gefolgt von beschwichtigender Einordnung, dann das langsame Verstummen. Nicht der Vorfall selbst wird analysiert, sondern sein Anlass individualisiert – als Ausnahme, als tragischer Zwischenfall, als Problem eines Einzelnen.

Der junge Mann wird pathologisiert, der Beamte durch juristische Neutralität abgeschirmt – und das System, das beide hervorgebracht hat, bleibt unangetastet. Alles, was über das Verhältnis von Gewalt, Macht und Kontrolle hätte gesagt werden können, wird stattdessen in das unbestimmte Feld der Einzelfallprüfung verschoben. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Mensch stirbt – und die Gesellschaft alles tut, um nicht sich selbst infrage stellen zu müssen.

Doch genau das wäre jetzt nötig: Die Frage, warum und unter welchen Voraussetzungen der Staat Gewalt ausüben darf. Ob diese Gewalt kontrolliert oder bloß verwaltet wird. Und was es über uns sagt, wenn wir jenen Institutionen am meisten vertrauen, die zugleich am meisten Macht über uns ausüben – bis hin zum Tod.

Wenn dann die Betroffenen staatlicher Gewalt überproportional oft Menschen mit Migrationshintergrund, People of Color oder gesellschaftlich Marginalisierte sind, ist das kein Zufall, sondern Ausdruck einer tief verankerten Asymmetrie. Die Polizei – eine Organisation mit starker Binnenstruktur, einem gewachsenen Korpsgeist und begrenzter öffentlicher Transparenz – bildet nicht nur Hierarchien, sondern reproduziert gesellschaftliche Vorurteile in organisierter Form. Nicht, weil alle Polizisten rassistisch wären, sondern weil geschlossene Systeme blind werden für ihre eigenen Muster. Der Einzelfall wird so zum Symptom. Und der Versuch, ihn als bloße Ausnahme darzustellen, ist vielleicht die wirkungsvollste Form seiner Verteidigung.

2. Gewalt unter Vertrag – Die Idee vom staatlichen Gewaltmonopol

Der moderne Staat beansprucht das Gewaltmonopol – nicht als Ausdruck von Willkür, sondern als Garant für Ordnung, Sicherheit und Rechtsdurchsetzung. Max Weber nannte dies „das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit innerhalb eines bestimmten Territoriums“. Die Formel wirkt trocken, fast technisch. Doch sie beschreibt ein zentrales Versprechen: dass der Staat im Namen aller handelt – und nicht aus Eigeninteresse.

Diese Vorstellung geht zurück auf die politischen Theorien der Aufklärung. Bei Hobbes ist es der „Leviathan“, ein künstliches Wesen, das durch den Gesellschaftsvertrag mit Gewalt ausgestattet wird, um das Leben seiner Bürger vor dem „Krieg aller gegen alle“ zu schützen. Später differenzieren Locke und Rousseau: Gewalt darf nicht willkürlich, sondern nur im Rahmen des Gesetzes, auf Grundlage des Gemeinwillens ausgeübt werden. In der Praxis entsteht daraus das Modell des Rechtsstaates: Die Bürger verzichten auf eigene Gewalt, weil sie glauben, dass der Staat sie besser, gerechter, begrenzter ausübt.

Doch dieser Glaube ist kein Automatismus. Er muss sich immer wieder bewähren – in der Realität staatlichen Handelns. Die Polizei, als sichtbarster Arm dieses Gewaltmonopols, steht daher in einem besonders prekären Verhältnis zur Gesellschaft: Sie repräsentiert Ordnung – aber auch Zwang. Sicherheit – aber auch Kontrolle. Hilfe – aber auch Macht.

Historisch betrachtet zeigt sich: Wo das Vertrauen in staatliche Gewalt fehlt, kippt das System. In autoritären Regimen wird die Polizei zum Instrument der Einschüchterung, der Überwachung, der Gewalt. In der Weimarer Republik etwa verlor die Polizei früh ihre Integrationsfunktion und wurde zunehmend als politisches Machtinstrument missbraucht – was ihren reibungslosen Übergang ins NS-Regime begünstigte. Auch in der frühen Bundesrepublik war die Polizei in vielen Fällen personell wie mentalitätsmäßig mit dem autoritären Erbe der Vorkriegszeit verknüpft – und nur langsam öffnete sich der Diskurs über Kontrolle und Transparenz.

Die jüngere Geschichte liefert ebenfalls Beispiele: Der unaufgeklärte Tod von Oury Jalloh in einer Polizeizelle in Dessau 2005; der NSU-Komplex mit seinen eklatanten Versäumnissen bei Polizei und Verfassungsschutz; die rassistisch motivierte Gewalttat von Hanau 2020, bei der nicht nur der Täter, sondern auch die staatliche Reaktion – Notrufprobleme, verschlossene Türen, mangelnde Fürsorge – Vertrauen zerstörte.

Diese Fälle sind keine juristische Serie von Einzelfällen, sondern eine politische Kette von Erfahrungen: von Perspektiven, die zeigen, dass der Staat nicht für alle gleich funktioniert. Dass er mit zweierlei Maß misst – nicht immer bewusst, aber oft wirksam.

Und nun Oldenburg. Ein 21-jähriger Mann, erschossen von einem Polizisten. Wieder die Einzelfallrhetorik. Wieder das Schutzbedürfnis der Institution. Wieder das Schweigen zur Struktur.

Was aber, wenn sich diese Struktur nicht mehr durch Reformvorschläge beruhigen lässt? Wenn das Gewaltmonopol zwar rechtlich besteht, aber gesellschaftlich zu bröckeln beginnt? Wenn nicht nur gefragt werden muss, wie Gewalt ausgeübt wird – sondern ob es nicht andere Wege gäbe, Sicherheit und Gerechtigkeit zu organisieren?

Diese Frage führt direkt zu der gesellschaftlichen Debatte – oder dem, was als solche ausgegeben wird. Sie sind der nächste Prüfstein: für unsere Bereitschaft, uns selbst zu befragen.

3. Öffentliche Debatten – von der Angst, die richtigen Fragen zu stellen

Man könnte meinen, der Tod eines Menschen durch staatliche Gewalt wäre Anlass für eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung. Doch die Realität der öffentlichen Debatte folgt einer anderen Logik: Sie ist weniger Suche nach Wahrheit als Verteidigung der Ordnung. Nicht Neugier auf die Ursachen, sondern Angst vor Kontrollverlust treibt sie an.

Die erste Reaktion ist meist affektiv: Betroffenheit, Entsetzen, ein flüchtiger moralischer Impuls. Dann folgen die ersten Erklärungen – meist entlastender Natur: der Beamte war überfordert, die Situation unübersichtlich, die Bedrohung real. Spätestens jetzt setzt das Narrativ des bedauerlichen Einzelfalls ein – das strukturierte Vergessen beginnt.

Was selten geschieht: eine Diskussion über institutionelle Verantwortlichkeiten, über strukturelle Gewalt, über rassistische Routinen oder über den Begriff der „Verhältnismäßigkeit“ im Ernstfall. Wer solche Fragen stellt, gerät schnell in Verdacht, „pauschal“ zu urteilen, „Vorverurteilungen“ auszusprechen oder gar die Polizei als Ganzes „in Misskredit zu bringen“. Diese Begriffe wirken wie rhetorische Brandschutzwände: Sie sollen verhindern, dass das System selbst infrage steht.

Hinzu kommt ein strukturelles Ungleichgewicht der Stimmen: Die Betroffenen oder ihre Angehörigen – oft migrantisch, oft sozial marginalisiert – bleiben medial unterrepräsentiert oder werden auf ihre Emotionalität reduziert. Ihnen wird indirekt unterstellt, voreingenommen zu sein – während die Institution Polizei als rational, objektiv, neutral gilt. Dass aber auch Institutionen Ideologien haben können, bleibt meist unausgesprochen.

Diese Form der Debatte ist keine Debatte im eigentlichen Sinne, sondern eine Abwehrbewegung. Ihr Ziel ist nicht, neue Erkenntnisse zu gewinnen, sondern bekannte Muster zu stabilisieren. Sie spricht vom Einzelfall, weil sie das System nicht sehen will. Sie verlangt Geduld, wo Mut gefragt wäre. Und sie appelliert an Vertrauen, wo Kontrolle notwendig wäre.

So wird die öffentliche Diskussion zur Bühne eines paradoxen Schutzreflexes: Statt den Gewaltakt zu analysieren, wird die Gewaltinstanz selbst beschützt. Als müsse man ihr Loyalität beweisen – gerade dann, wenn sie versagt hat.

4. Der Schutz der Beschützer – Vertrauen, Angst und die Ordnung der Ordnung

Es gibt einen Moment in jeder eskalierenden Debatte, an dem nicht mehr der Vorfall selbst, sondern seine Bedeutung zur Bedrohung wird. Die Idee, dass staatliche Gewalt ungerecht, rassistisch oder unkontrolliert sein könnte, ist für viele schwerer zu ertragen als die Gewalt selbst. Der Gedanke, dass die Polizei nicht neutral, sondern möglicherweise Teil des Problems ist, kratzt nicht nur an einem Berufsbild – er erschüttert ein gesellschaftliches Selbstverständnis.

Denn die Polizei steht symbolisch für mehr als nur Gesetzesvollzug. Sie ist Projektionsfläche für Sicherheit, Garant einer Ordnung, in der die eigene Lebensweise geschützt erscheint – vor dem Fremden, dem Bedrohlichen, dem Unbekannten. Diese symbolische Funktion macht Kritik so schwierig. Wer die Polizei kritisiert, stellt scheinbar auch die Ordnung infrage, in der andere sich sicher fühlen.

Doch genau darin liegt die paradoxe und gefährliche Dynamik: Je größer das Bedürfnis nach Schutz, desto aggressiver die Abwehr jedes Zweifels – und je vehementer diese Abwehr, desto weniger Kontrolle über die Beschützer. So schließt sich ein Teufelskreis, in dem Angst Loyalität erzwingt und Loyalität Blindheit erzeugt. Der Staat wird in seiner Schutz und Ordnung versprechenden Funktion dann nicht mehr rational hinterfragt, sondern emotional verteidigt – nicht trotz seiner Macht, sondern wegen ihr.

Vertrauen, so gesehen, ist nicht die Folge überprüfter Verlässlichkeit, sondern oft ein Ersatz für sie. Ein Vertrauen aus Mangel an Alternativen, gespeist aus der Furcht, was ohne es sein könnte. So erklärt sich auch, warum Kritik an der Polizei schnell als „Staatsfeindlichkeit“ diffamiert wird – nicht, weil sie es tatsächlich wäre, sondern weil sie den psychologischen Pakt angreift, der zwischen Bürger und Staat stillschweigend besteht: „Du schützt mich – ich frage nicht nach.“

Aber genau das ist gefährlich. Denn ein Vertrauen, das sich nur über Schweigen erhält, ist kein Vertrauen, sondern Abhängigkeit. Eine Demokratie, die keine Kritik an ihren Gewaltorganen zulässt, ist bereits auf dem Weg in den Autoritarismus – nicht durch Putsch, sondern durch Gewöhnung.

Und so wird jeder neue Fall – Oldenburg, Hanau, NSU, Jalloh – zu einem Prüfstein, nicht nur für die Institutionen, sondern für das demokratische Selbstverständnis selbst. Die Frage ist nicht nur, was geschehen ist, sondern ob wir bereit sind, es zu begreifen – jenseits des Reflexes, uns selbst und unsere Ordnung zu verteidigen.

5. Jenseits der Gewalt – Der abolitionistische Gedanke

Was, wenn es anders ginge? Diese Frage steht am Anfang des Abolitionismus – nicht als naive Hoffnung auf eine konfliktfreie Welt, sondern als ernst gemeinter Zweifel an der Gewöhnung an Gewalt. Der abolitionistische Gedanke fragt nicht zuerst: „Wie verbessern wir die Polizei?“, sondern: „Warum brauchen wir sie überhaupt – und wem dient sie tatsächlich?“

Abolitionismus, wie ihn Denkerinnen wie Angela Davis, Ruth Wilson Gilmore oder Mariame Kaba vertreten, ist keine Forderung nach Chaos, sondern nach Umverteilung von Ressourcen, nach Entlastung der Polizei von Aufgaben, für die sie nie gedacht war – psychische Krisen, Armut, soziale Konflikte. Er fragt: Warum reagieren wir auf Not mit Zwang? Warum ist Kontrolle so oft die erste Antwort auf strukturelles Versagen?

Der abolitionistische Gedanke nimmt ernst, dass viele Probleme, auf die Polizei mit Gewalt reagiert, soziale Probleme sind: Armut, Ausgrenzung, psychische Belastung, institutionelles Misstrauen. Er geht davon aus, dass eine Gesellschaft, die ihre Ressourcen in Fürsorge, Bildung, Prävention und Teilhabe steckt, weniger Polizei braucht – nicht weil die Menschen besser sind, sondern weil die Konflikte anders gelöst werden können.

In diesem Sinne ist Abolitionismus keine Utopie, sondern eine andere Form von Realismus: einer, der Gewalt nicht als notwendiges Übel hinnimmt, sondern als strukturelles Symptom. Er ist kein Projekt der schnellen Abschaffung, sondern der konsequenten Umgestaltung: weg von der autoritär verwalteten Ordnung hin zu einer demokratisch getragenen Fürsorge.

Dabei geht es nicht darum, alle Sicherheitsbedürfnisse zu leugnen. Sondern darum, sie ernst zu nehmen – aber anders. Sicherheit nicht als Disziplinierung, sondern als Ergebnis sozialer Gerechtigkeit zu denken. Schutz nicht als Kontrolle, sondern als geteilte Verantwortung.

Die Frage, ob man Polizei „abschaffen“ könne, führt deshalb oft in die Irre. Die klügere Frage ist: Wie könnten wir unsere gesellschaftlichen Konflikte lösen, ohne reflexhaft zur Waffe zu greifen? Was bräuchte es, damit die Institution, die heute das Gewaltmonopol ausübt, irgendwann nicht mehr nötig ist?

Solche Fragen wirken auf viele bedrohlich – nicht weil sie falsch sind, sondern weil sie unser Selbstbild infrage stellen. Denn vielleicht zeigt sich gerade darin, wie abhängig wir von einem System sind, das wir zugleich als neutral verklären und als alternativlos verteidigen. Und vielleicht beginnt eine ernsthafte demokratische Praxis genau hier: bei der Bereitschaft, sich diese Abhängigkeit einzugestehen – und darüber hinauszudenken.

6. Anders handeln – Konkrete Praktiken jenseits der Polizei

Oft wird der Abolitionismus belächelt oder als weltfremd abgetan – als würde eine Gesellschaft ohne Polizei unweigerlich im Chaos versinken. Dabei wird übersehen, dass an vielen Orten längst alternative Modelle existieren, die sich auf die Konfliktlösung konzentrieren, ohne staatliche Gewalt ins Zentrum zu stellen. Sie setzen nicht auf Repression, sondern auf Beziehung, Vertrauen, Fürsorge und Verantwortung.

Crisis Assistance Helping Out On The Streets (CAHOOTS), Oregon, USA

Ein oft zitiertes Beispiel ist das Projekt CAHOOTS aus Eugene, Oregon. Seit über 30 Jahren rücken dort bei Notrufen in psychischen Ausnahmesituationen nicht Polizisten mit Schusswaffen aus, sondern Teams aus Sanitätern und Sozialarbeiterinnen. Sie helfen bei Krisenintervention, Obdachlosigkeit, Drogenproblemen. Nur in wenigen Prozent der Einsätze wird polizeiliche Unterstützung nötig. Die Einsparungen für das Gemeinwesen sind beträchtlich – die gesellschaftlichen Gewinne schwer messbar, aber enorm.

Mental Health Street Triage, Großbritannien

In mehreren britischen Städten arbeiten Polizei und psychiatrische Fachkräfte in sogenannten Street Triage Teams zusammen. Ziel ist es, bei akuten psychischen Krisen nicht reflexhaft mit Festnahmen oder Zwangseinweisungen zu reagieren, sondern mit kompetenter Einschätzung, Deeskalation und unmittelbarer Hilfe. Auch hier wird deutlich: Viele „gefährliche“ Situationen sind vor allem eskalierte Hilferufe – falsch adressiert.

Transformative Justice und Community Accountability

In vielen aktivistischen und marginalisierten Communities – vor allem in Nordamerika – entstehen seit Jahren Community-basierte Konfliktlösungsmodelle, die sich explizit als Alternativen zu Polizei und Justiz verstehen. Transformative Justice etwa arbeitet mit Prinzipien wie kollektiver Verantwortung, Wiedergutmachung, Heilung. Ziel ist nicht Bestrafung, sondern Veränderung – beim Täter, beim Opfer, im sozialen Umfeld. Es ist ein langsamer, schwieriger Weg – aber einer, der auf Beziehungen setzt statt auf Macht.

Deutschland: Modellversuche und zivilgesellschaftliche Initiativen

Auch in Deutschland entstehen erste zivilgesellschaftliche Versuche, mit Gewalt- und Konfliktsituationen außerhalb der Polizei zu arbeiten. Initiativen wie „Kotti & Co“ in Berlin-Kreuzberg oder „ReachOut“ in Berlin engagieren sich für Betroffene rassistischer Polizeigewalt, organisieren Selbsthilfe, rechtliche Unterstützung und politische Bildung. In Leipzig und Berlin werden Modellversuche für psychische Notlagen ohne Polizeiunterstützung diskutiert. Noch sind das kleine Schritte – aber sie zeigen: Das Denken beginnt.

Diese Ansätze beweisen: Es geht nicht um das Ende aller Ordnung, sondern um neue Formen der Verantwortung. Sie folgen einer anderen Logik: nicht der der Kontrolle, sondern der der Verbundenheit. Nicht: Was muss ich tun, um den anderen zu zwingen?, sondern: Was braucht es, damit wir gemeinsam weiterkommen?

Sie erfordern Zeit, Ressourcen, Geduld – das Gegenteil von Durchgreifen. Aber vielleicht ist genau das die eigentliche Stärke dieser Alternativen: dass sie der Komplexität menschlicher Konflikte gerechter werden als jede Uniform.

7. Schluss: Die Zumutung, vernünftig zu sein

Vielleicht ist es das Schwierigste in einer Gesellschaft, die Ordnung gewohnt ist: zu begreifen, dass diese Ordnung nicht selbstverständlich ist – und noch weniger neutral. Dass sie gemacht wird, jeden Tag neu, durch Entscheidungen, Routinen, Hierarchien – und dass sie dabei nicht alle schützt, sondern manche besonders oft trifft.

Wenn ein Mensch durch staatliche Gewalt stirbt, ist das nicht nur ein menschlicher Verlust. Es ist auch eine Frage an das System, das diesen Tod ermöglicht hat. Und an uns, die wir es dulden – oder verteidigen. Nicht aus Bosheit, sondern oft aus Furcht: vor Kontrollverlust, vor Veränderung, vor Unsicherheit.

Doch vielleicht liegt genau darin der Anfang einer anderen Politik: in der Bereitschaft, Sicherheit nicht länger mit Gewalt zu verwechseln. In der Fähigkeit, Vertrauen nicht durch Macht zu erzwingen, sondern durch Nähe, Gerechtigkeit und geteilte Verantwortung herzustellen. In der Vorstellungskraft, sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der man nicht beschützt wird, sondern gemeinsam schützt.

Der Abolitionismus ist kein Dogma, kein Rezept. Er ist eine Frage. Eine Zumutung. Eine Einladung, sich nicht länger mit dem Gewohnten zu bescheiden. Nicht zu glauben, dass Gewalt immer sein muss. Sondern zu beginnen, neu zu denken – radikal, vernünftig, menschlich.

Vielleicht ist das der wahre Kern von Demokratie: Nicht die Zustimmung zur bestehenden Ordnung, sondern die Erlaubnis, sie infrage zu stellen.

Weiterdenken – Lesen, Hören, Recherchieren

Dieser Text ist ein Einstieg – kein Urteil. Wer sich tiefer mit den Themen Polizei, staatliche Gewalt, strukturellem Rassismus und abolitionistischen Perspektiven beschäftigen möchte, findet hier erste Orientierungspunkte. Die Auswahl ist bewusst heterogen: wissenschaftlich, essayistisch, aktivistisch, journalistisch.

Texte und Bücher

  • Angela Y. Davis: Are Prisons Obsolete?
    – Klassiker des Abolitionismus. Klar, knapp, grundsätzlich.
  • Mariame Kaba: We Do This ’Til We Free Us
    – Essays und Gespräche zur Frage: Was tun, wenn Polizei keine Option ist?
  • Ruth Wilson Gilmore: Golden Gulag
    – Analyse der US-Gefängnisindustrie – mit Blick auf Ökonomie, Rassismus und Struktur.
  • Vanessa E. Thompson (Hg.): Abolitionismus. Ein Reader
    – Aktuelle Einführung und Debatte im deutschsprachigen Raum.
  • CILIP – Bürgerrechte & Polizei
    – Zeitschrift zur Polizei- und Bürgerrechtsforschung seit 1978.
    Website: www.cilip.de

Dokumentationen & Podcasts

Websites & Initiativen


Letzter Gedanke:
Weiterdenken ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit – gerade dann, wenn es unbequem wird. Hier beginnt Veränderung.

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert