Denkfiguren
Nicht jeder Text, der wirkt, steht im Kanon. Und nicht jede Stimme, die fehlt, ist vergessen.
Hier geht es um Denkfiguren, die heute noch relevant sind – unabhängig von Geschlecht, Ruhm oder Regalplatz.
Denkfiguren können provozieren, stören, weiterhelfen. Sie sind keine Heiligen, aber oft unbequem nah.
cycloo greift auf, was trägt: Schopenhauer, Freud, Arendt, Nietzsche – und andere, deren Gedanken nicht im Regal verstauben sollen, sondern den Diskurs in Bewegung bringen.
Der Narr mit der Nadel
„…wie ein Narr, der einen freifliegenden Vogel mit einer Nadel aufspießen will…“
— Robert Musil
In Der Mann ohne Eigenschaften beschreibt Robert Musil zwei Arten von Genauigkeit: die phantastische und die pedantische. Die eine hält sich an die Tatsachen – auch wenn sie unklar bleiben. Die andere klammert sich an alte Begriffe, als wären sie Wirklichkeit.
Ein Jurist versucht, den Fall Moosbrugger in ein System zweitausendjähriger Rechtsbegriffe zu zwängen – als wolle er einen Vogel mit einer Nadel aufspießen. Die Psychiater hingegen gestehen ein: Dieser Fall passt in kein Muster. Sie sagen, was sie wissen – und was nicht.
Musils Pointe: Die ehrlichere Genauigkeit zieht sich zurück. Die Entscheidung fällt trotzdem – durch ein System, das vorgibt zu wissen, was es nicht weiß.
Vielleicht ist wahre Genauigkeit heute nichts anderes als die Fähigkeit,
Nichtwissen auszuhalten, ohne „festnadeln“ zu wollen.